Kirche und Demokratie – kein Gegensatz Erich Garhammer Veröffentlicht am 12. Dezember 2024 von Erich Garhammer15. Dezember 2024 Isabell Ley, Tine Stein und Georg Essen (Hg.) 384 Seiten 48,00 Euro Herder Verlag Freiburg i. Br. 2023 Lebendige Seelsorge 5/2024 Buchbesprechung 347 Das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften auf dem Prüfstand Das Cover des Buches zeigt das weithin sichtbare Kreuz auf der Kuppel des wieder errichteten Stadtschlosses in Berlin. Darunter steht auf blauem Untergrund in goldenen Lettern: „Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Die Enthüllung des Kreuzes im Oktober 1848 war eine demonstrative Geste gegen die Abgeordneten in der Frankfurter Paulskirche, die an einer liberaleren und demokratischeren Rechtsordnung arbeiteten. Die Paulskirchenverfassung sah vor, dass sich die Religionsgesellschaften selbst organisieren konnten, es sollte keine ‚Staatskirche‘ geben. Diese religionspolitische Ordnung fand schließlich Eingang in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Artikel 140 des Grundgesetzes – der das Weimarer Religionsverfassungsrecht inkorporiert, das auf die Paulskirchenverfassung zurückgeht – sichert den Religionsgemeinschaften zu, dass diese staatlichen Eingriffe in ihre inneren Angelegenheiten zurückweisen können. Wie aber steht es heute um diese Regelung angesichts von zurückgehenden Mitgliederzahlen der Kirchen und angesichts des Vorwurfes einer Täterorganisation des sexuellen Missbrauchs? Vorliegender Band behandelt in vier Rubriken folgende Fragen: Soll das Religionsverfassungsrecht angesichts der beschriebenen Herausforderungen weiterentwickelt werden? Welche Rolle kommt dem Staat mit Blick auf den sexuellen Missbrauch in den Kirchen zu? Kann die Sonderrolle für die Kirchen insbesondere im Bereich des Arbeitsrechts aufrechterhalten werden? Wie sind die Krise und die Reformbemühungen innerhalb der katholischen Kirche zu bewerten? Welche Rolle sollte dabei der demokratische Verfassungsstaat einnehmen? In den einzelnen Beiträgen werden theologische, sozialwissenschaftliche, politiktheoretische und religionsverfassungsrechtliche Zugänge gewählt. Hier soll lediglich der Beitrag von Michael Seewald Dogma, Recht und demokratische Prinzipien in der katholischen Kirche. Versuche über einen möglichen Zusammenhang (363–378) referiert werden, weil er die grundsätzlichen Vorbehalte gegen die Rezeption von demokratischen Denk- und Handlungsformen in der Kirche zum Thema macht und stichhaltig Isabell Ley, Tine Stein und Georg Essen (Hg.) 384 Seiten 48,00 Euro Herder Verlag Freiburg i. Br. 2023 Lebendige Seelsorge 5/2024 Buchbesprechung 347 NACHLESE Segen Buchbesprechung entkräftet. Seewald zitiert ausführlich Artikel 8 der Kirchenkonstitution Lumen Gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dort wird von der Kirche als einer „realitas complexa“ gesprochen, das heißt Kirche als göttliche Gemeinschaft und irdische Organisation sind nicht zwei verschiedene Größen, sondern bilden eine komplexe Wirklichkeit. Die Kirche ist also frei, die der komplexen Realität angemessene Organisationsform zu wählen. Die Einwände gegen demokratische Abläufe in der Kirche operieren häufig mit Angstszenarien: Was wäre, wenn demokratische Prinzipien auf Glaubensfragen Einfluss nehmen würden? Kann eine Mehrheit entscheiden, was Wahrheit ist? Seewald votiert hier für eine transparente Argumentation. Eine im Interesse einer Minderheit stehende Entgegensetzung von Wahrheit und Mehrheit – wobei Minderheiten genauso irren können wie Mehrheiten – arbeitet mit einer angstgetriebenen, aber letztlich machterhaltenden Argumentation. Man sollte sich darauf erst gar nicht einlassen. Die allermeisten Entscheidungen, die der Papst und die Bischöfe alltäglich treffen, sind personeller, pragmatischer oder prudentieller Natur. Die Vorstellung, dass eine stärkere Berücksichtigung demokratischer Prinzipien die Kirche verfassungsmäßig auf den Kopf stellen und ihren Glauben deformieren würde, ist ein argumentum ad absurdum. Es tarnt sich lediglich als Sorge um den rechten Glauben, entspringt aber dem Unwillen, die Kirche gemäß dem Evangelium zu reformieren und in eine angemessene Zeitgenossenschaft zu führen. Dieser Text sollte Pflichtlektüre werden für alle an Reformprozessen in der Kirche beteiligten Kräfte, die sich täglich mit diesen Tarnargumenten der Mächtigen herumschlagen müssen. Erich Garhammer